MARCELLVS L. – VIDEORHIZOM
Posted on Februar 5, 2012
Filed under Watchlist: Arbeiten, Watchlist: Artists and tagged Hauptsache: Es Knallt!, Video
MARCELLVS L.
0667 0778 3195 1716
(a screening from the on-going series VIDEORHIZOME)
Seit 2002 arbeitet Marcellvs (*1980 in Belo Horizonte/Brasilien) an dem so genannten VideoRhizom – einer Serie von bisher 28 kurzen Videoarbeiten, die weder chronologisch aufeinander aufbauen noch inhaltlich zusammenhängen. Allein der Entstehungsprozess aller Arbeiten ist jeweils derselbe: Die Kamera ist auf einem Stativ montiert und filmt das Geschehen vor der Linse je nach Entfernung des Subjekts mal klar erkennbar, mal stark abstrahiert und verschwommen. Dabei bleiben die Parameter einer jeden Einzelarbeit immer gleich, gehen doch alle gefilmten Situationen aus Alltagsbeobachtungen hervor, auf die der Künstler spontan stößt – mit der Folge, dass für keine der Arbeiten ein Drehbuch, „richtige“ Schauspieler oder eine erzählte Handlung vorliegen. Gerade von dieser Spannung und Ambivalenz zwischen zufälligen und streng kontrollierten Entscheidungen aber leben die Arbeiten; und gerade das strenge Prinzip der Produktionsbedingungen stellt ein wesentliches Ordnungskriterium dar, das alle Werke miteinander verbindet.
DAS KONZEPT
Der Begriff „Rhizom“, mit dem Marcellvs in dieser Videoserie arbeitet, geht zurück auf ein gedankliches Konzept des französischen Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytikers Felix Guattari. Am Bild eines aus der Botanik stammenden Fachbegriffs, der ein hierarchieloses, also sich nicht von einer Hauptwurzel ausbreitendes Wurzelgeflecht beschreibt, erläuterten sie 1976 das Modell eines dezentralisierten, offenen und sich stets im Werden befindenden Netzwerkes. Es hat keinen Anfang und kein Ende und erweitert sich beständig, indem es immer wieder Verknüpfungen zu anderen Netzwerken eingeht.
Marcellvs‘ VideoRhizom ist jedoch nicht als Illustration dieser Idee, die Deleuze und Guattari in ihrem Hauptwerk „Tausend Plateaus“ 1981 vertiefend darlegten, zu verstehen. Vielmehr betrachtet der Künstler die Herstellung der einzelnen Werke und deren ungewöhnliche Distribution als Weiterentwicklung und künstlerische Adaption ihrer Gedanken.
So überträgt er die Zufällig- und Richtungslosigkeit der Theorie nicht nur auf die spontane Entdeckung von Orten und Situationen. Auch die Titel der Werke ergeben sich aus gewürfelten und damit zufällig entstandenen vierstelligen Zifferkombinationen, die das Zusammenhanglose der Reihe weiter unterstreichen.
Diese Bezifferung ist wiederum ein wichtiger Faktor für die Distribution der Arbeiten. Denn ob der Künstler die vierstellige Zahl in einer Hausnummer, Postleitzahl oder Telefonnummer wiederfindet – wo sie in einem Haushalt der Stadt, in der er sich während der Produktion befindet, auftaucht, dorthin schickt er ein Päckchen, das eine Kopie des Videos enthält. Insofern bedient er sich mit diesem Distributionsmechanismus nicht nur der unendlichen Reproduzierbarkeit des Mediums, es geht auch um den Akt der Verbreitung, wobei letztlich ungewiss bleibt, ob die Bänder überhaupt ihren Zielort erreichen: „Wer erhält sie, wie erhält er sie, was ist der Zweck? Das ist letztlich gleichgültig. Wesentlich ist diese zufällige, fragile Begegnung zwischen Geschehen und Nicht-Geschehen: dem, der die Bilder produzierte, denjenigen, die auf ihnen zu sehen sind, demjenigen, der die Bilder per Post erhält. Bis jetzt wurden (…) 3300 Bänder verschickt.“
ZEIT UND DAUER
VideoRhizom ist, so erklärt der Künstler, ein Lebensprojekt. Das liegt nicht nur an der Tatsache, dass es von Beginn an als unendliche Folge angelegt war. Insbesondere das Experimentieren mit einer neuen Form von Zeitlichkeit ist ein Hauptanliegen von Marcellvs‘ künstlerischer Arbeit. Minimale oder sich stets wiederholende Bewegungsabläufe und lange Plansequenzen sind daher ein zentrales Charakteristikum der Arbeiten und fordern den Betrachter dazu auf, sich ganz auf die jeweilige Situation einzulassen und auf den unterlegten Sound zu konzentrieren. Statt auf ein Ereignis zu warten, ist das Warten selbst das Ereignis. Die Absicht, die sich hinter diesem Vorgehen verbirgt, liegt darin, eine neue Form von Wahrnehmung und Sichtbarkeit zu schaffen – unterstützt durch Klanginstallationen, die der Künstler ebenfalls selbst kreiert. Dieser sehr behutsame und originelle Umgang mit Tönen und Bildern ermöglicht es dem Betrachter, Zeit als einen Rohstoff zu begreifen und sie wie eine Skulptur, die geformt und bearbeitet wurde, zu erfahren.